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Der erste Blick über den Tellerrand kann so überwältigend sein, dass man die neue Weite, die von nun an vor Augen liegt, für dieselbe Weite hält, die sich insgesamt erblicken lässt. In dieser Phase ist der Horizont noch ein Gaukler, der aber denjenigen die Hand reicht, die noch über den Tellerrand zu steigen wagen. (Norbert Schultheis)


 

Von der Ängstlichkeit des Kaninchen

(Detlef Fetchenhauer)

Rubrik: Von Freunden

Es war einmal ein kleines Kaninchen, das sehr ängstlich war. Es hatte Angst vor Schlangen. Es hatte Angst vor Gewittern. Es hatte Angst vor Hagel. Es hatte Angst davor, dass die Welt eines Tages aufhören würde, sich zu drehen. Es hatte Angst davor, seine Eltern zu verlieren und seine Brüder und seine Schwestern. Es hatte Angst davor, eines Tages nicht genügend Gräser zu finden. Es hatte Angst davor, niemals ein großes Kaninchen zu werden. Es hatte Angst davor, später einmal kein anderes Kaninchen zu finden, mit dem es eigene kleine Kaninchen würde haben können. Am Ende war das Kaninchen so ängstlich, dass es Angst vor der Angst hatte. Und während die anderen Kaninchen munter durch die Frühlingssonne hoppelten, saß es traurig am Rand der Wiese und fragte sich, woher die anderen Kaninchen nur ihren Lebensmut nahmen.

Da kam ein alter Fuchs des Weges, setzte sich neben das kleine Kaninchen und fragte, warum es so traurig in die Welt gucke. Dies war das erste Mal, dass irgendjemanden auffiel, wie traurig das kleine Kaninchen eigentlich war. Und da der Fuchs so klug aussah und so einfühlsam, fasste das kleine Kaninchen allen Mut und erzählte von seinen schlaflosen Nächten voller Angst, am nächsten Morgen nicht wieder aufzuwachen, von seiner Traurigkeit und seinem Alleinsein, weil die anderen Kaninchen seine Traurigkeit nicht verstanden.

Und weil der Fuchs ein so guter Zuhörer war und ihm für ein paar Stunden alle Ängste genommen hatte, beschloss das Kaninchen, zusammen mit dem Fuchs zu dessen Höhle zu gehen.

Was es nicht wusste: Wie viel Angst auch der Fuchs noch am Morgen gehabt hatte. Angst davor, alt zu werden. Angst davor, seine Familie nicht mehr ernähren zu können.

Am Abend, nach einem langen und festlichen Essen, und nachdem sie alle Knochen des Kaninchenbratens genüsslich abgenagt hatten, streichelte die Frau des alten Fuchs ihm zärtlich über die weiße Spitze seines langen Schwanzes. »Wer so klug ist wie Du, muss nicht schnell rennen können«, flüsterte sie ihm ins Ohr und der alte Fuchs schlief zufrieden und angstlos ein.