Goethes Ballade „Der Erlkönig“ ist wohl eines seiner bekanntesten Werke, umso mehr Interpretationen sind darüber im Umlauf. Neben meiner eigenen
(Goethes Erlkönig und das Kind im Manne) möchte ich auch auf eine originelle Deutungsart aufmerksam machen, die sich vielleicht nicht mit Goethes Intention deckt, aber dennoch schlüssig und vor allem lesenswert ist. Auch wenn so mancher Poststrukturalist wohl etwas übertrieben hatte, als vom „Tod des Autors“ die Rede war, so teile ich die Auffassung, dass der Sinn eines Textes viel mehr vom Leser anstatt vom Autor erzeugt wird. Gerade so großartige Texte wie der Erlkönig bieten vielseitigen Sinn, der die Absicht seiner Autoren in den Schatten stellt. Es ist schade, dass viele Deutschlehrer und selbsternannte Literaturexperten davon keine Notiz nehmen und sich ins intellektuelle Abseits stellen, wenn sie leichtfertig und überheblich von falschen Interpretationen sprechen. Sie sollten doch zumindest in der Lage sein, plausible Argumente anzugeben, warum sie die poststrukturalistische Sichtweise ablehnen. Andererseits sollte aber auch einer Willkür Einhalt geboten werden, um gänzlich unpassende Interpretationen nicht in einem postmodernen Licht aufleuchten zu lassen. Dazu empfiehlt sich, einen mittleren Weg einzuschlagen und die hermeneutischen Auffassungen von z.B. Martin Heidegger, Hans-Georg Gadamer oder Umberto Eco immer mit im Blickfeld zu haben.